Bericht von Maria Zänker in Zusammenarbeit mit Josy Fischer-Johannsen
Was macht systemische Beratung besonders?
In der systemischen Beratung nehmen wir nicht nur die Person, die vor uns sitzt in den Blick, sondern immer auch das Bezugssystem des Ratsuchenden. Das Besondere dabei ist, dass wir das Verhalten der Person durch die Interaktionen im jeweiligen System erklären.
Nehmen wir beispielsweise an, ein Klient/Patient/Kunde oder eine Klientin/Patientin/Kundin sucht eine Beratung und berichtet von seiner/ihrer Aggressivität. Systemiker*innen würden im ersten Schritt Fragen über den jeweiligen Kontext stellen. Wir gehen davon aus, dass das unerwünschte Verhalten etwas mit dem Kontext zu tun hat und nicht mit einer individuellen Eigenschaft der ratsuchenden Person. Wir erkunden, in welchen Situationen das aggressive Verhalten nicht oder nur abgeschwächt auftritt. Deshalb sagen wir beispielsweise nicht „jemand ist aggressiv“ und suggerieren damit, dass das Verhalten nicht verändert werden kann, vielmehr formulieren wir: „Er oder sie verhält sich aggressiv in einer bestimmten Situation“. Indem wir Unterschiede wahrnehmen, werden Veränderungsprozesse denkbar und neue Handlungsoptionen für Ratsuchende können entstehen.
Darüber hinaus gehen Systemiker*innen davon aus, dass das gezeigte Verhalten im eigenen Lebensumfeld Sinn macht oder früher sinnvoll war. So kann ein aggressives Verhalten beispielsweise hilfreich sein, um sportlichen Erfolg zu erreichen. In anderen Kontexten wie bei der Arbeit oder in der Familie wiederum scheint ein aggressives Verhalten eher unerwünscht. Vielleicht gab es jedoch in der Vergangenheit Situationen, in denen aggressives Verhalten hilfreich und nützlich war. In der systemischen Beratung werden Probleme der Menschen als ein Lösungsversuch gesehen, sich so an ihre Umwelt im beruflichen oder privaten Umfeld anzupassen, dass ein Gleichgewicht entsteht, selbst wenn damit manchmal große eigene Belastungen verbunden sind.
Die systemische Beratung ist sehr vielseitig anwendbar. Neben der Einzelberatung finden oft Beratungen im Mehrpersonensetting mit den Betroffenen beispielsweise als Paar oder Familie statt. Der systemische Ansatz findet zudem immer stärker Einzug in Organisationen, um sowohl Einzelpersonen als auch Teams zu unterstützen.
Für wen ist systemische Beratung besonders empfehlenswert und was ist das Ziel?
Die systemische Beratung wendet sich an alle, die mehr über das Zusammenspiel zwischenmenschlicher Beziehungen und ihre Auswirkung auf unterschiedliche Systeme, auf die persönliche Haltung und das eigene Rollenverständnis erfahren möchten. Sie wendet sich an Personen, die Handwerkszeug für professionelles Handeln suchen, mit dem Ziel, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern.
Mögliche Einsatzgebiete liegen in der psychosozialen, pädagogischen oder medizinischen Arbeit, in der Sozialpädagogik, Psychologie und Psychotherapie oder in der Arbeit mit älteren Menschen. In Wirtschaft und Organisationen liegen diese im betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM), im Führungskräfte-, Team- und Mitarbeitenden-Coaching, in der Personalentwicklung, Organisations- und Kulturentwicklung, in der Prozessbegleitung oder Konfliktberatung.
Was haben Sie, Maria Zänker, als besonderen Mehrwert im Prozess der Weiterbildung erlebt?
Hier ein Beispiel: Nach dem ersten Jahr meiner Weiterbildung zur systemischen Beraterin war ich Anfang 30. Ich erinnere mich noch genau an einen Klienten Ende 50, der in einer Ehekrise steckte und das erste Mal eine Beratungsstelle aufsuchte. Ich begrüßte ihn freundlich und erkannte in seinem Blick sofort eine gewisse Skepsis mir gegenüber. Mit dieser Einschätzung lag ich nicht ganz falsch. Kaum war die Tür zum Beratungszimmer geschlossen, sprudelten Fragen aus ihm heraus: „Wie wollen Sie mir denn sagen, wie ich meine Ehe retten soll?“ oder „Sind Sie überhaupt schon verheiratet?“ Nachdem wir rund eine Stunde miteinander gesprochen hatten, bedankte er sich am Ende des Gesprächs und fragte nach einem Folgetermin bei mir. Wie ist mir das gelungen?
Vor der Weiterbildung hätte ich wahrscheinlich versucht, ihn davon zu überzeugen, dass ich die Expertin bin, die er mir nicht zutraute. Durch die Weiterbildung hatte sich meine Haltung gegenüber Klient*innen grundlegend verändert. Er selbst war der Experte für sein Leben. Ich lehnte mich innerlich also etwas zurück, brachte das vermeintliche „Expertenwissen“ in meinen imaginären Keller und gab dafür Neugier, Offenheit und Wertschätzung mehr Raum. Meine Aufgabe war es, in dem Gespräch Handlungsmuster sichtbar zu machen, neue Perspektiven anzubieten und hilfreiche Ressourcen zu entdecken, die ihn dabei unterstützen, Lösungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen. Außerdem gab mir das bereits gelernte systemische „Werkzeug“ zusätzlich Sicherheit in diesem Gespräch.
Um was geht es in der systemischen Beratung?
Als systemisch Beratende betrachten wir Ratsuchende als Experten und Expertinnen für ihre jeweilige Lebenssituation. Dabei orientieren wir uns an den Anliegen und Wünschen der Klient*innen. Wir gehen davon aus, dass jede Person eigene Lösungen entwickeln kann und arbeiten mit den vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen. Unsere Haltung ist geprägt von Wertschätzung, Akzeptanz und Neutralität. Systemiker*innen nutzen dabei vor allem systemische Fragen. Mit deren Hilfe sollen neue Sichtweisen angestoßen werden, die den Ratsuchenden helfen, eigene Denk- und Handlungsmuster zu erweitern und neue Handlungsspielräume zu entdecken. Typische Methoden des systemischen Ansatzes sind unter anderem zirkuläre Fragen, das Reframing, die Wunderfrage oder die Genogrammarbeit. Wir stellen viele hypothetische Fragen und richten den Blick eher auf die Gestaltung der Zukunft.
Wie können Interessierte einen Eindruck von dieser Methode bekommen?
Josy Fischer-Johannsen, Ulrich M. Treiber,
Maria Zänker, Dezember 2023